Motivationspsychologie – eine weitere Runde
Ich habe mich an Ralf Brand, der den Vortrag hielt, der Grundlage für den Artikel Wohlfühlen beim Üben? war, gewendet. Mich interessierte unter anderem, ob es den Forschungen gäbe, zu intrinsisch motivierten Sport. Denn der von Ralf Brand untersuchte Gesundheitssport ist meiner Meinung nach extrinsisch motiviert und entspricht damit eigentlich nicht der Situation des Übens.
Ralf Brand hat mir geantwortet und empfahl mir, mich mit der Self-determination theory zu beschäftigen. Das habe ich bisher noch nicht so richtig getan. Denn das meiste von mir gefundene Material ist auf Englisch und es gibt spärliches auf Deutsch. Unter anderem in dem Buch “Motivation und Emotion: Allgemeine Psychologie für Bachelor“. Ich habe mir den Motivationsteil durchgelesen.
Obwohl ich im Jahr 2009 das deutlich dickere “Motivation und Handeln” gelesen hatte, erfuhr ich viele neue Dinge. Wobei ich nicht weiß, ob ich die damals in diesem Buch überlesen habe, mittlerweile vergessen habe oder sie einfach nicht (so deutlich) darin stehen.
In dem Artikel “Wohlfühlen beim Üben?” erwähne ich das Experiment:
Ich ließ die Schüler bestimmen, wie groß der nächste zu bearbeitende Abschnitt sein soll. Kriterium, er soll locker beherrschbar sein. Ein Teil traf eine gute Wahl, der andere Teil wählte eindeutig zu viel.
Also änderte ich die Bedingung. Du musst den Abschnitt in so vielen Versuchen schaffen.
Ich mache das jetzt ziemlich häufig im Unterricht und möchte meine Beobachtungen schildern.
Für die erste Beobachtung muss ich etwas vorausschicken. Ich versuche zu vermitteln, man möge in Abschnitten üben. Meine kleinste Übeabschnittgröße ist entweder ein Takt oder zwei Takte. Bekomme ich von Kollegen Schüler, wundern sich diese, wie kurz meine Abschnitte für das erste Üben sind. Weiter versuche ich zu vermitteln, langsam zu üben.
(Meine neue Standardansage im Unterricht lautet: Wenn Du mit einer Aufgabe nicht zurechtkommst, was machst Du dann? Es gibt folgende Möglichkeiten:
- weniger und/oder
- langsamer
- die Aufgabe ignorieren.
Was wählst Du? Meine Schüler wollen dann einen Anwalt sprechen. ;-))
Langer Rede kurzer Sinn, all das, was ich meinen Schülern empfehle, damit sie sich das Leben leichter machen, wird doch eher als Belästigung empfunden.
Bei der oben beschriebenen Vorgehensweise, wählen die Schüler plötzlich kleinere Abschnitte als ich normalerweise vorschlagen würde. Und so etwas wie langsamer Spielen, oder zur Vereinfachung auf den Rhythmus zu verzichten wird plötzlich liebend gern aufgegriffen.
Es gibt aber auch “extreme” Reaktionen bei diesem Spiel zu beobachten. Und damit komme ich auf das oben genannte Buch “Motivation und Emotion: Allgemeine Psychologie für Bachelor” zurück.
In diesem Buch wurde mir sehr deutlich klar, dass viele Motive zusammenwirken und das Ergebnis eine bestimmte Motivation ist. Diese Motive sind kategorisierbar.
Die Self-determination theory spricht neben der intrinsischen Motivation von folgenden Motivarten:
(1) externale Regulation: Verhalten
Motivation und Emotion. S. 116
durch äußere Belohnung oder Bestrafung reguliert
(2) introjizierte Regulation: Handeln, um Schuld oder Angst zu vermeiden
selbstbestimmt:
(3) identifizierte Regulation:
Handeln in Übereinstimmung mit eigenen Werten
(4) integrierte Regulation: Handeln als Teil des Selbstkonzepts
Andere Motivationstheorien bringen noch andere Dinge wie Selbstbild usw. ein. Mir scheint nach meinen Experiment, dass es Motive gibt, die wesentlich mehr hineinspielen als ich bisher geglaubt habe.
Jetzt zu den oben angedeuteten Reaktionen. Ich habe einen Schüler, mit dem führe ich schon seit Jahren die Diskussion, wie man vernünftig übt. Wetten, ob er sein Übeziel schafft, verliert es grundsätzlich. Wegen dieser Wetten hatte er einen Schuldenberg von 30 Knoppers. Er wettet mittlerweile nicht mehr. Von diesem Schüler kam in jüngeren Jahren der Satz: “Wenn ich etwas nicht kann, dann ist das wirklich schwierig und dann muss ich das nicht können.” Er sucht sich auch viele Sachen selber heraus und spielt wahrscheinlich eine Stunde Gitarre am Tag. Aber alles ist schludrig, schlampig und ist nicht schön anzuhören. In gewisser Weise ein überdurchschnittlich motivierter Schüler, der überdurchschnittlich begabt ist, aber einen deutlich nicht entsprechenden Output hat.
Es war nicht anders zu erwarten, dieser Schüler wählte einen viel zu großen Abschnitt. Und schaffte das selbst gesetzte Ziel nicht annäherungsweise. Angebote, der Erleichterung wurden rigoros abgelehnt.
Dieser Schüler äußert sich aber sehr frei über sein Innenleben. Begründung für sein Verhalten: “Es kann nicht sein, dass ich das nicht schaffe. Das muss doch schaffbar sein. Ich bin doch nicht blöd”.
Er senkt jetzt über die Wochen allmählich seine Ziele, aber wenn er sie sich gesetzt hat, ist er nicht bereit, sie zu ändern. Die Gründe sind immer die Gleichen.
Eine andere Schülerin, die eines der höchsten Lerntempi hingelegt hat, aber in gewisser Weise sehr ängstlich ist. Wenn sie vorspielt, darf in meinem Gesicht nichts passieren. Von ihr stammte, als nach Corona die Masken fielen, der Satz: “Du weißt schon, dass dein Gesicht ziemlich stört!” Bei ihr steht zur Debatte, ob sie eine Klasse überspringt.
Diese Schülerin wählte am Anfang nur zwei Töne. Sie steigerte sich zwar noch im Laufe der Stunde. Blieb aber deutlich unter ihren Möglichkeiten. Sie erklärte mir: “Du weißt doch, dass ich zum “Team Vorsicht” gehöre.”
Der Schüler ist 14, die Schülerin 12.
Meine Erkenntnis daraus, es gibt Motive in Schülern, die eine massive Wirkkraft haben müssen, obwohl man sich denkt, dass diese Gründe eher Pillepalle sind und kaum Wirkung entfachen dürften.
Diese beiden mögen Extremfälle sein, aber ihre Strategien sehe ich auch bei anderen Schülern.
Aber es gibt noch eine weitere interessante Beobachtung. Die Schüler finden diese Vorgehensweise weniger frustrierend. Dies hat eine Überlegung in mir angestoßen, weil ich dieses Spiel auch mit mir selber beim Üben spiele.
Ein Motivationsfaktor ist, dass man bemerkt, dass man seinen Zielen näher kommt.
Ab und zu baute ich mein obiges Spiel um. Ich bestimmte den Abschnitt, der Schüler sagte die Anzahl der Versuche, die er brauchen würde, den Abschnitt zu schaffen. Dabei stelle ich fest, je höher die Zahl, die der Schüler vorschlägt, desto weniger kümmert es den Schüler, wenn er diese Zahl überschreitet. Auch wenn ich als Lehrer einen Fortschritt erlebe, erlebe ich den Fortschritt nicht so deutlich, als wenn die Schüler kleine Zahlen nennen oder selbst die Abschnitte bestimmen.
Vorsicht, ich möchte nicht sagen, dass weniger Fortschritt stattfindet, sondern das Tempo und die Qualität des Fortschrittes ist plötzlich ziemlich schwer fassbar.
Jetzt gibt es ja den zentralen Satz vieler Instrumentallehrer: “Wenn Du das lange genug übst, dann wird es schon funktionieren.” Könnte es sein, dass wir für unsere Schüler und für uns selbst beim Üben einen Fortschritt akzeptieren, der beim Laien eher demotivierend ist.
Bei der ersten oben genannten Vorgehensweise, sieht man klare Erfolge, die man mitzählen kann. Bei endlosen Versuchen tut sich etwas, wobei man dann irgendwann abbricht, weil es ermüdend wird.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 15. Dezember 2023 um 08:00 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gitarre lernen, Gitarrenunterricht, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .