Mikroaggression und Weihnachtslieder
Meine erste Begegnung mit Weihnachtsliedern in meiner Unterrichtstätigkeit ist eine von mir gern erzählte Geschichte. Ich fragte einen Jugendlichen, ob er denn Weihnachtslieder spielen wollen würde. Seine Antwort war: “Nö! Das muss echt nicht sein.” In der nächsten Stunde fragte er etwas verzweifelt: “Können wir doch ein Weihnachtslied wegen des Familienfriedens machen? Meine Mutter nervt so.”
Ich vermute, jeder, der mit einem Instrumentenkoffer in der Gegend herumläuft, kennt die Zurufe, ob man nicht etwas vorspielen wolle oder es kommt der Maschinengewehrwitz. Zeigt man seine Genervtheit, ist man eine Spaßbremse. Ich wäre doch Musiker, da müsste mir das doch Freude machen.
Ab und zu werde ich gefragt, ob ich nicht wo spielen könnte. Wenn ich nach Geld frage, werde ich sehr irritiert angesehen.
Und was hat das alles mit Weihnachtsliedern zu tun? Ab und zu treffen Dinge zusammen, die eigentlich nicht zusammengehören, aber dann zu komischen Kurzschlüssen in meinem Kopf führen.
Auf meinem Arbeitsweg komme ich durch das Frankfurter Regenbogenviertel und damit auch an der Kneipe der Frankfurter Aidshilfe vorbei. Ein gerade aufschließender Mitarbeiter musste mich mal wieder zu einem Ständchen auffordern. Ich dachte mir: “Warum auch Du? Du gehörst doch selber zu einer Gruppe, die andauernd Sprüche gedrückt bekommt? Bei Euch nennt man das dann “Mikroaggression” und “diskriminierendes Verhalten”.
Kurz danach, beim ersten Schüler war die Mutter mit und fragte, ob ich denn Weihnachtslieder machen würde. Sie war sehr früh dran. Eigentlich zu früh. Ich weiß nicht warum, aber ich fragte sofort, ob Sie denn das wolle oder ihr Sohn? Die Antwort war, Sie wolle das und es solle nicht “Morgen kommt der Weihnachtsmann” sein, weil in ihrer Familie käme nicht der Weihnachtsmann. Aber Sie, ihre Tochter und Sohn wollen zu Weihnachten gemeinsam etwas spielen.
Ich habe ihr dann versucht zu erklären, dass Kinder zu dem erzwungenen Weihnachtsliederspielen ein sehr angenervtes Verhältnis haben. Unter vier Augen befragte ich den Kleinen, wie er denn zu Weihnachtsliedern stehen würde. Seine Antwort war: Nur ein ganz wenig, eigentlich wolle seine Mutter das.
Ein paar Tage später stand der Vater, der mit dieser Familie des Jungen befreundet ist, vor mir und fragte, ob ich nicht ein Weihnachtslied für ihn und seine Tochter hätte. Dann könnten sie das an Heiligabend gemeinsam spielen. Aber er hätte gehört, ich hätte ein Problem mit Weihnachtsliedern. (Interessant, was aus einer Aussage so werden kann, wenn man bemerkt, man könne doch den Kinderwunsch berücksichtigen.)
Ich erklärte ihm dann dasselbe wie der Mutter und befragte unter vier Augen seine Tochter. Dieses Kind muss man öfters befragen, bis man weiß, woran man ist, aber das Ergebnis war. Weihnachtslieder wären schon in Ordnung. Aber warum denn dann das gleich mit dem Vater vorspielen müsse? Das muss nicht sein.
Bemerkenswert finde ich an dieser Geschichte, dass bei beiden Familien sehr viel Wert auf den Willen der Kinder gelegt wird, aber kaum geht es um Weihnachtslieder fungieren die Kinder als Figuren irgendwelcher Phantasien und werden gar nicht gefragt.
Eigentlich ist den Kindern in einem sehr kleinen Rahmen passiert, was anderen wegen ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder anderer Merkmale passiert. Sie werden wegen eines bestimmten Merkmales “Kann ein Instrument halten” nicht mehr als Individuum wahrgenommen, sondern in eine Schublade gesteckt.
In der Diskriminierungsdebatte gibt es die Theorie, dass nicht marginalisierte Menschen Diskriminierung nicht nachempfinden können. Musiker*Innen fällt das vielleicht etwas leichter, weil sie eine Art Ahnung haben, durch den Gefühlskitsch, der ihnen entgegenschlägt und gegen den sie sich wehren müssen.
Also liebe Eltern, Großeltern und andere Verwandte, fragt die Kinder, ob sie zu den Feiern spielen wollen und wenn nicht, lasst sie doch bitte in Ruhe, weil eigentlich ist es doch eine Art übergriffiges Verhalten.
Als ich aber eine neue Schülerin nach Weihnachtsliedern fragte, war die Antwort: “Nein. Ich hasse Weihnachten. Dann machen alle plötzlich auf Familie.” Als mir diese Geschichte durch den Kopf ging, fiel mir auf, dass diese musizierenden Eltern im Restjahr nie einen Versuch gemacht haben, mit ihren Kindern zu musizieren. Warum eigentlich?
In dem Sinne, schöne Weihnachten.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 22. Dezember 2023 um 08:21 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Eingeschoben abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .