Zahl oder Zeit
Im Artikel Selbstbestimmte Übemengen schreibe ich:
Mit einem 6-jährigen Zweitklässler handelte ich 10 Minuten aus. Er wollte aber sich dann einen Wecker stellen und sofort aufhören, wenn dieser klingelt. Eigentlich ein Schuss in den Ofen. Mir fiel dann aber auf, dass er keine Übezeiten angeben konnte, sondern wie oft er die Stücke spielt. Also verhandle ich seitdem mit ihm, wie oft er die Stücke spielt. Er zeigt seitdem keine „defätistischen“ Reaktionen und die Zahlen steigen.
Eigentlich habe ich dieser Geschichte keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, bis mir ein Zucken im Gesicht eines Schülers, als ich die Übezeit mit ihm vereinbarte, auf die Idee brachte, den Schüler zu fragen, ob ihm eine Zahl der Wiederholungen, wie oft er das Stück durcharbeitet, lieber wäre? Der Schüler bejahte.
Er schlug eine Zahl vor, die ihm, wenn er das Stück wirklich in meinem Sinne durcharbeiten würde, eine deutlich höhere Übezeit ergeben hätte können, als die vorgeschlagene. Man soll ja SchülerInnen nicht vom Üben abhalten, aber ich wies ihn dann doch darauf hin. Es war dem Schüler klar. Zahlen seien besser als Zeit.
Dieser Schüler ist 12. Es stellte sich die Frage nach dem Warum? Ich googelte nach der Entwicklung des Zeitbegriffes bei Kindern. Das war unergiebig. Also schaute ich in zwei Entwicklungspsychologiebücher. In nur einem fand ich überhaupt etwas zur Entwicklung des Zeitbegriffs. Aber es war nicht einmal eine Seite.
Also befragte ich meine SchülerInnen. Ich konnte feststellen, irgendwo zwischen 12 und 16 Jahre gibt es einen Kipppunkt, von “Ich-will-Wiederholungszahlen” zu “Ich-will-Zeitangaben”. Die Frage blieb, warum ist eine Wiederholungszahl den jüngeren SchülerInnen lieber.
Ich glaube, die Antwort einer Schülerin fasste den Sachverhalt ganz gut zusammen. Als ich sie fragte, ob ihr klar sei, dass man in der Zeit, in der man das Stück 5 Mal durcharbeitet, durch vernünftiges Üben mehr erreichen könne als durch die Wiederholung. Es war ihr klar. Aber bei Wiederholungen wisse sie, was sie zu tun habe, bei vernünftigem Üben nicht.
Es gab noch weitere Antworten, die gingen alle in dieselbe Richtung, aber es gab da noch ein weiteres Motiv. Bei Zeitangaben sahen die SchülerInnen die Gefahr zu wenig, bzw. zu viel zu üben. Damit das wirklich klar wird, ein und dieselbe Person hatte die Befürchtung, es kann zu viel, aber auch zu wenig sein.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich um Drückebergerei handelte, sondern dass dies ein ernsthaftes Problem darstellt.
Als erstes Résumé kann man sagen, Kinder wissen nicht, wie sie ihr Üben gestalten sollen, deswegen haben sie Angst vor der Zeit.
Vielleicht ist es jemandem beim Lesen aufgefallen, ich schrieb “durcharbeiten” nicht “durchspielen”. Ich versuche meinen Schülern eine Übestrategie zu vermitteln. Jetzt rückblickend würde ich sagen, das Problem ist, wie wird die Erklärung der Übestrategie im Unterricht zu einer Handlungsweise zu Hause?
Ich glaube einer meiner größten Fehler in dieser Frage war, dass ich die SchülerInnen anleite, wenn ich Üben Demonstriere. Also, weil das passiert ist, müssen wir das tun. In letzter Zeit, wie hier an verschiedenen Stellen beschrieben, lasse ich Schüler Abschnittsgrößen und Aufgabenstellungen wählen. Daraus hat sich ergeben, ich frage immer mehr, was ist der nächste Schritt. Ich habe den Eindruck, dies hinterlässt mehr Spuren bei der Vorgehensweise beim häuslichen Üben.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 29. November 2024 um 08:53 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gitarrenunterricht, Kinder, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .