Es liegt etwas im Argen
Ich bin schon vor einigen Wochen unter https://www.mein-klavierunterricht-blog.de/2016/10/01/klavierlehrer-interview-8-sebastian-mikolai-mit-zwei-tollen-klavierstuecken-zum-downloaden/ auf diesen Absatz gestoßen:
„Einmal habe ich eine Schülerin von einem anderen Lehrer übernommen. Ihr war verboten worden, auf die Tasten zu sehen und Fehler wurden harsch kritisiert. Sie starrte nur das Notenblatt an. Das Schlimme: Sie konnte die Noten nicht lesen. Sie hatte also sowohl keinen Bezug zum Instrument als auch zu den Noten, so dass sich längst ein Gefühl von Unzulänglichkeit breit gemacht hatte.
Für mich war das eine Erinnerung daran, welche Verantwortung wir als Lehrer haben. Regeln sind wichtig, verwendet man sie jedoch als Ultimatum, können sie Angst und ein Gefühl von Dummheit provozieren. Wer das wissenschaftlich belegt wünscht, schaut sich auf Youtube Videos von Gerald Hüther an, der Spezialist auf diesem Gebiet ist. Es hat Jahre gedauert, um am Instrument das Selbstvertrauen der jungen Dame wieder herzustellen und sie nicht über jeden Fehler frustriert zu erleben.“
Diese Absätze haben sehr lange in mir rumort.
Der Satz „Regeln sind wichtig, verwendet man sie jedoch als Ultimatum, können sie Angst und ein Gefühl von Dummheit provozieren.“ hört sich gut an. Bloß er ist meiner Meinung nach falsch. Wenn ich von meinen Regeln oder Forderungen abweichen muss, dann ist der Schüler überfordert.
Wenn ich dann von der Regel abweiche, dann erfährt der Schüler auch, dass er überfordert ist.
Vielleicht kennt mancher unter den Lehrern den Moment, wenn es nicht weitergeht, dass man versucht, erst einmal das Problem unter den Tisch fallen zu lassen. Aber Schüler sind nicht doof. Da kommt schon mal auch die Frage, warum interessiert dich das nicht? Je nach Größe des Problems kann man die Wahrheit sagen oder man hat mit der Wahrheit ein Problem.
Ich erzähle hier eine extreme Geschichte.
Ich bekam eine Schülerin, die eine Verbindung zu viel zwischen den Gehirnhälften hatte. Die Impulse die für die rechte Hand bestimmt waren, gingen teilweise in die linke Hand und andersherum. Sie floh von der Klavierlehrerin zu mir, weil ihre beste Freundin, die Schülerin bei mir war, sie mitbrachte und sie der Meinung war, ich sei viel netter als die Klavierkollegin.
Die Wahrheit war, ich war nicht netter als meine Kollegin, ich wurde von den Eltern über das neurologische Problem vorgewarnt, was sie bei meiner Kollegin nicht taten. Ich habe deswegen nur besser die Fassung gewahrt, weil das sonst nicht Fassbare, fassbar war.
Aber das eigentliche Fiasko war, die Eltern verschwiegen dem Kind diese neurologische Problematik. Tja und die beste Freundin war auch noch Gewinnerin des Musikschulwettbewerbes. Der Schülerin dämmerte im direktem Vergleich so allmählich, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte.
Beim Vorspiel, auf das die Eltern bestanden, und die Schülerin die Diskrepanz zu den anderen Schülern sah, da war der Ofen aus. Und zwar so aus, wie es die Eltern verhindern wollten.
Deswegen geht es nicht darum, ob man Regeln zum Ultimatum erklärt oder nicht. Sondern wenn Regeln aufgeweicht werden müssen, dann heißt das, dass der Schüler ein Problem hat. Das versteht der Schüler, wenn ich an der Regel festhalte. Weiche ich ab, versteht er es auch. Die Nachricht bleibt bestehen. Die Wahrheit bleibt.
Das Problem ist nicht die Regel. Sondern das Problem mit der Regel verdeutlicht, dass der Schüler ein Problem hat.
Ich habe schon manches Kind mit einer Teilleistungsstörung unterrichtet. Vielen war gemeinsam, dass sie versuchten zu beweisen, dass das alles nicht stimmt. Bei der Gitarre – so die große Hoffnung – würden sie normal lernen. Was leider nicht so war. Das anderswo angeknackste Selbstbewusstsein hielt dann auch bei mir Einzug. Die Wahrheit war wieder da.
Deswegen bin ich auch ziemlich sicher, dass der erste Lehrer nicht dem Kind das Selbstbewusstsein am Instrument zerstört hat, sondern das Selbstbewusstsein im ganze Leben bergab ging und damit auch am Klavier.
Auch hat Sebastian Mikolai nicht das Selbstbewusstsein der Schülerin am Klavier wieder aufgebaut, sondern vielleicht den Aufbau des Selbstbewusstseins im Restleben der Schülerin, nur nicht all zu sehr behindert, vielleicht auch ein Scherflein beigetragen.
Die Verantwortung, die Sebastian Mikolai postuliert, gibt es in dieser Form und in diesem Ausmaß nicht. Und das ist gut so.
Denn dem Selbstbewusstsein eines Schülers, der mit sich und seinem Leben zufrieden ist, der gesund ist und normale Begabungen hat, bin ich als Instrumentallehrer relativ egal. Um den aus der Bahn zu werfen, müsste ich in einer Art und Weise unangemessen agieren, dass ich wahrscheinlich strafrechtlich belangt werden könnte.
Und sollte doch mal ein Schüler mit hohem Neurotizismus auftauchen… So lange dessen Umfeld in Ordnung ist, muss ich auch ganz kräftig daneben langen, damit ich da etwas auslöse.
Instrumentalunterricht erzeugt keine Probleme. Aber ihn im wird häufig deutlich, was im Argen liegt.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 4. November 2016 um 08:11 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Allgemein, Eingeschoben, Gitarre lernen, Gitarrenunterricht abgelegt. | Es gibt 2 Kommentare